Text: Inga Dora Meyer        Foto: www.Slawik.com

Meist stehen der Herde eine erfahrene Stute vor sowie ein Leithengst. Dazu kommen jüngere Stuten und Fohlen. Hengste wandern mit der Geschlechtsreife ab, bzw. werden vom Leithengst vertrieben. Stuten dagegen bleiben häufig bei ihrer Herde. Die jungen Hengste bilden zu Anfang gerne ­zusammen eine Kleingruppe. Dies gibt ihnen mehr Schutz vor Raubtieren und lässt sie in spielerischen Kämpfen für den Ernstfall üben: einen Leithengst zum Duell zu stellen und ihm so seine Herde abzunehmen. In einigenFällen wandern auch junge Stuten mit ­einem neuen Hengst ab“, erklärt Ann-Kathrin Maraun, Humanpsychologin, Tierverhaltenstherapeutin und Centered Riding Instruktorin aus Frankfurt am Main.

Oft gibt es eine klare Arbeitsteilung zwischen Leithengst und Leitstute. Die Stute, die oft sehr unscheinbar wirkt, bestimmt die Richtung und was wann gemacht wird (fressen, schlafen, trinken, fliehen etc.). Für sie bedeutet Führen vor allem, der Herden-gemeinschaft zu dienen. Der Leithengst hingegen schützt die Herde bei Gefahr und sorgt dafür, dass kein anderer Hengst seine Position einnimmt. Er muss selbstsicher, mutig und entschlossen sein, aber auch Beständigkeit und Besonnenheit an den Tag legen, ansonsten würde er nicht als Leithengst anerkannt. Nicht selten steht er etwas abseits der Herde und bewacht seine „Familie“ von außen. Bei einer Flucht teilen sich die beiden Leittiere die Aufgaben. „Die Leitstute übernimmt die Führung, während der Hengst die Nachhut bildet, die anderen Pferde antreibt und aufpasst, dass niemand verloren geht. Er ist auch derjenige, der sich im Notfall dem Kampf mit einem Angreifer stellt“, so Maraun weiter. Nur wenn beide kompetent und souverän führen, Gefahren einschätzen können und immer wissen, welche Reaktion gerade gut und angemessen ist, werden sie von den anderen Herden-mitgliedern respektiert, sodass diese ihnen freiwillig folgen. Denn nur eine gute Führung garantiert das Überleben aller.

Darüber hinaus leben Pferde in der Natur in einem festen Sozialgefüge. „Es gibt klare Regeln, feste Befugnisse und Aufgaben“, sagt die Expertin. Das sorgt für Sicherheit und Berechenbarkeit. „Nur so können sich die Mitglieder gegenseitig einschätzen und vertrauen“, so Maraun weiter. Dann ist es in einer stabilen Herde auch möglich, zur Ruhe zu kommen, was wiederum zum Einsparen von Energie führt. „Diese beiden Faktoren sind zwei der größten Motivationen von Lebewesen überhaupt. Kein Wildpferd wird unnötig seine Energie durch Stress verbrauchen. Denn ein Grundgesetz der Natur lautet: Man weiß nicht, was es morgen noch an Ressourcen gibt“, so Maraun. „Geführt zu werden heißt also, in die Führung vertrauen zu können und sich gegenseitig Respekt zu zollen. Führung macht das Leben für das Pferd deshalb leichter und angenehmer“, resümiert die Expertin. Die Führung der Herde kann aber auch auf andere Tiere aufgeteilt sein – ungeachtet des jeweiligen Ranges, den sie innerhalb des sozialen Herdengefüges einnehmen. Das zeigt eine 2015 veröffentlichte Studie aus Frankreich: Im Rahmen ihrer Forschungen beobachteten Marie Bourjade und ihre Kollegen zwei wild lebende Przewalski-Herden im 380 Hektar umfassenden Gebiet von Le Villaret. „Während unserer Beobachtungen konnten wir kein Leitpferd ausmachen, das den Großteil der Herdenbewegung häufiger bestimmte als andere Herdenmitglieder. Der Entscheidungsprozess schien stattdessen auf mehrere Pferde aufgeteilt zu sein“, berichtet Bourjade von ihren dort gewonnenen interessanten Erkenntnissen.

Dominanz ist nicht gleich Führung

Beim Thema Führung klingeln bei vielen Reitern die Alarmglocken, weil es oft mit Unterdrückung, Gehorsam und im Pferdebereich vor allem mit Dominanz in Verbindung gebracht wird. Dabei sind Dominanz und Führung zwei völlig verschiedene Paar Schuhe. Von Dominanz spricht man in der Psychologie, wenn ein Individuum das Verhalten eines oder mehrerer anderer Individuen beherrschen bzw. kontrollieren will: Individuum A schränkt die Rechte und Freiheiten von Individuum B ein und gesteht sich selber diese Rechte und Freiheiten zu, was von B akzeptiert wird. Dominanz ist jedoch immer beziehungsspezifisch sowiezeit- und situationsabhängig, auch bei Pferden.Ihr Verhalten orientiert sich an individuellenCharaktermerkmalen (ein Tier ist z. B. aggres-siver als ein anderes), der Motivation des einzelnen Tieres zu einem bestimmten Zeit-punkt (eine säugende Stute trinkt z. B. meistvor den anderen, weil sie einen erhöhten Wasserbedarf hat) und an Freundschaftsverhältnissen. Es gibt keinen Hinweis in derForschung darauf, dass ein Pferd dauerhaft dominant über ein anderes ist. Der Ausdruck „führen“ bedeutet so viel wie „leiten“, „die Richtung bestimmen“ oder auch „in Bewegung setzen“. Der Zweck der Führung besteht in der direkten oder indirekten Beeinflussung der Einstellungen und des Verhaltens, um ein Ziel zu erreichen. Die Funktion der Führung wird von den Mitgliedern einer Gruppe als soziale Rolle in unterschiedlichem Umfang und Intensität wahrgenommen. „Der Begriff,Dominanz‘ heißt also nur, über einem an-deren zu stehen – in der sozialen Rolle.Er beschreibt nicht, was man miteinandertut – also welches Ziel erreicht werden soll. Dafür ist die Führung da“, fasst die Expertin zusammen.

… die komplette Titelstory mit vielen weiteren Informationen zur Führungskompetenz finden Sie in der Mein Pferd-Ausgabe 6/18.