Interview: Inga Dora Schwarzer    Foto: imago/Frank Sorge

Pferde sind Steppen-, Herden, Flucht- und Beutetiere und zeigen dementsprechende Verhaltensweisen. Für den Reiter ist es wichtig zu verstehen, warum es so und nicht anders reagiert. Je mehr er über die Bedürfnisse weiß, desto eher kann er unerwünschtes Verhalten verhindern und für Wohlbefinden sorgen. In einer achtteiligen Interviewreihe mit Verhaltenstherapeutin Susanne Grun (www.horselearningbysusn.com) schauen wir uns nach und nach verschiedene Verhaltensweisen genauer an – dieses Mal steht Selbstverteidigungsverhalten im Fokus.

 

Welche Verhaltensweisen gehören dazu?

Der Selbstverteidigungstrieb zählt zum Selbsterhaltungstrieb der Pferde. Hierzu zählen wir auch den Bewegungs- bzw. Flucht- und den Ernährungstrieb. Während der Zeit der Paarung übertönt der Selbsterhaltungstrieb der Pferde sogar den Arterhaltungstrieb. Über die Jahre wurden durch Zuchtauslese Pferde mit starkem Selbstverteidigungstrieb ausgemerzt. Zur Selbstverteidigung wird sich das Pferd immer durch Beißen oder Schlagen wehren. Doch immer erst dann, wenn es keine Möglichkeit zur Flucht findet und um Leib und Leben fürchtet. Allerdings gibt es durch eben diese Zuchtauslese vermehrt Pferde, die sich einfach töten lassen würden, weil sie kaum mehr noch einen Selbstverteidigungstrieb besitzen.

Wann zeigen Pferde einen Selbstverteidigungstrieb?

Pferde zeigen ihren kaum noch vorhandenen Selbstverteidigungstrieb in Situationen, in denen sie nicht flüchten können. Das kann ein „Training“ im Round Pen sein, wo ein vermeintlicher „Trainer“ das vermeintlich „dominante“ Pferd unterdrücken möchte, es zu sehr bedrängt oder gar misshandelt. Hier gibt es immer wieder charakterstarke Pferde, die dann zur Gegenwehr ansetzen und den Menschen angreifen. Hier muss ich aber dazu sagen: Das geschieht nur, wenn im Vorfeld bereits sehr viel im Umgang und der Arbeit mit diesem Pferd falsch gelaufen ist. Das von Ihnen erwähnte Ohrenanlegen in der Box hat selten etwas mit Selbstverteidigung zu tun. Es kann damit zusammenhängen, dass das Pferd deutlich machen möchte, dass jemand ihm in seinen Augen zu nahe kommt. Oder dass der, der gerade die Box betritt, ihm nicht wohlgesonnen war. Es kann eine Art des Bewachens des Futters sein. Oder auch eine Verteidigung des Territoriums. Hier ist immer die Ursache zu suchen und diese abzustellen, denn sonst entwickeln sich darauf weitere unerwünschte Verhaltensweisen oder gar Verhaltensauffälligkeiten. Auf keinen Fall darf ein Ohrenanlegen beim Betreten der Box ignoriert oder getadelt werden.

Was sind die Ursachen für aggressive Verhaltensweisen?

Die Ursachen für aggressive Verhaltensweisen sind unzählige. In meiner Arbeit ist es meist ein Mix aus Haltungs- und Ernährungsfehlern durch den Menschen sowie unpassende Ausrüstungsgegenstände über einen längeren Zeitraum hin. Natürlich auch grobes Verhalten des Menschen gegenüber dem Pferd zählt zu den Ursachen einer Aggression. Pferde nehmen sehr viel hin, von der harten Reiterhand über malträtierende Sporen bis hin zum Gertenmissbrauch. Bis ein Pferd tatsächlich aggressives Verhalten zeigt, vergeht meist viel Zeit. Natürlich hängt es auch immer vom Charakter des Pferdes ab, doch wie oben beschrieben ist der Selbstverteidigungstrieb bewusst durch den Menschen weggezüchtet worden. Das ist unsagbar traurig.

Ich stelle aber auch immer wieder fest, dass Pferde, die ein aggressives Verhalten zeigen, dieses sich regelrecht antrainiert haben. Sie haben gelernt, dass beim Drohen mit der Hinterhand oder einem Beißversuch die meisten Menschen Angst bekommen und so vom Training mit dem Pferd absehen. Da Pferde immer lernen, lernen sie auch hier, dass es ihnen „Freizeit“ bringt, wenn sie ein gewisses Verhalten zeigen. Aggression ist aber grundsätzlich immer ein Hilfeschrei des Pferdes.