Text: Aline Müller       Foto: www.Slawik.com

Tag für Tag machen unsere Pferde Erfahrungen. Dabei können Sie dafür sorgen, dass Ihr Pferd Ihnen vertraut und gerne lernt. Doch auch wenn ein Pferd schon die ein oder andere schlechte Situation erlebt hat, können Sie ihm helfen, Angst oder Unsicherheit zu überwinden und zu neuer Freude zu finden

In freudiger Erwartung steht eine Schimmelstute auf ihrem Paddock vor der Box, spitzt die Ohren und brummelt, sobald sie ihre Besitzerin entdeckt. Dann steht erst einmal Schmusen ganz oben auf dem Programm. Besonders gerne mag sie es, hinter den Ohren und am Hals gekrault zu werden. Nicht immer war De Lina so zutraulich, ganz im Gegenteil. Ein kleiner Rückblick: Vor zwei Jahren verliebt sich ihre heutige Besitzerin Yasmin sofort in sie. Damals steht De Lina in einem Verkaufsstall. Sie ist eher introvertiert und zurückhaltend. In der Box steht sie mit skeptischem Blick in der Ecke. Die damals vierjährige Stute ist beim Probereiten lieb, aber knirscht deutlich mit den Zähnen. „Ich habe dennoch direkt etwas in De Lina gesehen, was mich begeistert hat. Sie hat hinter ihrer skeptischen Art eine Gutmütigkeit ausgestrahlt“, erinnert sich Yasmin. „Manchmal ist das schwer zu beschreiben, aber ich wollte ihr einfach ein neues Leben mit guten Erfahrungen schenken und war mir fast sicher, dass sie dann aufblühen würde.“

Zurück zur Basis

Einen Monat später ist es so weit: De Lina zieht in den neuen Stall. An den ersten Tagen stellt sie sich in die hinterste Ecke ihrer Box, wenn Menschen kommen. Was sie alles im Ausbildungsstall erlebt hat, weiß Yasmin nicht genau. Nur Folgendes hat sie mitbekommen: „Sie wurde definitiv eng ausgebunden beim Longieren und Laufenlassen sowie auch häufig mit Schlaufzügeln und starker Hand geritten.“ Zuneigung scheint eher Mangelware gewesen zu sein. Schritt für Schritt traut sich De Lina auf ihr Paddock vor der Box und nimmt nach und nach Kontakt zu ihren Artgenossen auf. Yasmin geht in der Ausbildung noch einmal zurück zur Basis und beginnt mit dem Longieren am Kappzaum, mit Handarbeit und Spaziergängen im Gelände. Nie wird sie den Moment vergessen, an dem De Lina das erste Mal vertrauensvoll ihre Nähe gesucht hat. „Wir waren in der Longierhalle, und beim Durchparieren hat sie ihren Kopf ganz sanft an meine Brust gelegt und tief ausgeatmet. Ich habe sie gekrault und mit Stimme gelobt. Sie ist eine Weile so stehen geblieben, und wir haben beide diese besondere Ruhe und Gemeinsamkeit genossen.“ Mit der Zeit blüht die Schimmelstute immer weiter auf. Die positiven Erfahrungen mit ihrer neuen Besitzerin und die Haltung mit vielen Sozialkontakten sowie ganzjährigem Weidegang scheinen Balsam für Körper und Seele von De Lina zu sein. Sie sammelt immer mehr positive Erfahrungen, die ihr helfen, die alten, schlechten Erfahrungen zu überwinden. „Im Umgang mit Pferden sollten wir uns stets bewusst machen, dass unsere Pferde in jeder Interaktion mit uns Erfahrungen sammeln, die sie prägen“, erklärt Melanie Becker, die Pferde vielseitig in Klassischer Dressur, Handarbeit, Longenarbeit, Zirkuslektionen und Freiheitsdressur ausbildet. „Dafür müssen wir nicht mal bis in die Reithalle oder auf den Reitplatz gehen. Es reichen kleinste Interaktionen wie zum Beispiel das tägliche Füttern.“

Das Tagebuch Ihres Pferdes

Yasmin ist bewusst, dass De Lina immer Erfahrungen sammelt, sobald sie in Kontakt mit ihrer Stute tritt – ob direkt oder indirekt. Angefangen beim Ausmisten des Stalls bis hin zum Training, was eben nicht nur das Reiten umfasst, sondern auch jede andere Form der Ausbildung und Beschäftigung mit dem Pferd. „Dort reichen die kleinsten Interaktionen aus, um ein Pferd zu prägen“, betont unsere Expertin. „Wenn wir hier nun einen besonderen Fokus auf Jungpferde legen, müssen wir den Interaktionen etwas mehr Bedeutung geben, da ein Jungpferd, aber auch ein Fohlen noch nicht so viele Erfahrungen gemacht hat wie etwa ein älterer Lehrmeister.“

Melanie Becker vergleicht das gerne mit einem Tagebuch. Stellen Sie sich vor, das Pferd kommt auf die Welt, und das Buch ist leer, denn es hat bisher noch keinerlei Erfahrungen mit Menschen gemacht (wenn wir die Geburt, bei der Menschen dabei sind, ausklammern). Von Tag zu Tag „schreibt“ das Pferd seine Erfahrungen nieder. Die ersten Seiten haben dabei etwas mehr Bedeutung, denn in dieser Zeit wird die Basis gelegt, auf die das Pferd in ungewohnten Situationen von nun an zurückgreift. Wer ein Pferd kauft, weiß wie Yasmin nicht immer, was vorher passiert ist und inwieweit es schlechte Erfahrungen gemacht hat. Oder das ganze Aus- maß ist nicht bekannt. Dazu rät Ausbilderin Melanie Becker: „Wenn Sie einem fremden Pferd gegenübertreten, kann bereits der erste Kontakt zeigen, welche bisherigen Erfahrungen es gemacht hat. Begegnet Ihnen das Pferd offen und interessiert mit gespitzten Ohren, können Sie davon ausgehen, dass es überwiegend positive Erfahrungen mit Menschen gemacht hat.“

Den kompletten Artikel finden Sie in der neuen Mein Pferd- Ausgabe.