Wie können Sie Unfälle mit Ihrem Pferd vermeiden? In unserer Unfallakte erklären Profis, was in brenzligen Situationen zu tun ist.

Diesmal:
Ein geplanter Ausritt endete, noch bevor die Reiterin aufsteigen konnte. Ihr Pferd stieg, verhedderte sich im Führstrick und rannte panisch Richtung Straße

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Die Expertenmeinung von Horseman Peter Kreinberg:

Nicole und Wallach Ravel haben großes Glück gehabt. Die Situation, die sie schildert ist allerdings nicht untypisch. Viele Pferdebesitzerinnen und Pferdebesitzer sind immer wieder auf ihr Glück und einen Schutzengel angewiesen, und der Satz: "Das ist gerade noch mal gut gegangen" ist unter Pferdebesitzern und Reitern häufig zu hören. Wer da sein eigenes Wohlergehen und das seines Pferdes nicht dem Zufall überlassen möchte, der kann etwas dagegen tun.

Die Lösung für einen sichereren Umgang mit Pferden heißt vorbeugen durch Erziehung. Erziehung war neben der körperlichen Gymnastizierung ursprünglich eine der beiden Säulen der Pferdeausbildung oder auch Dressur genannt. Doch nicht nur das Pferd, auch Pferdebesitzer und Reiter benötigen ein ‚Erziehungsprogramm’, um sich selbst zu disziplinieren und die notwendigen Verhaltensweisen zu erlernen, die den Umgang sicherer machen. Wer sich für ein solches Lernprogramm interessiert, wird allerdings bei der konventionellen Reitausbildung nicht unbedingt fündig. Im deutschen Reitsystem wird auf die Gymnastizierung sehr viel Wert gelegt, aber die Erziehung kommt in Theorie und Praxis etwas zu kurz. Das war nicht immer so. In der Reitlehre HDV 12 für die militärische Geländereiterei, aus der die aktuelle deutsche Reitlehre hervorgegangen ist, wurde die ‚Zwei-Säulen’ Ausbildungstradition von sorgsamer Erziehung und systematischer Gymnastizierung praktiziert. In diesen Richtlinien sind die Grundsätze und Ziele der Dressur auf beiden Säulen gebaut: "Um alle Anforderungen (…) erfüllen zu können, bedarf das rohe Pferd planmäßiger, gymnastischer Durchbildung seines Körpers und sorgsamer Erziehung. Beides zusammen nennt man Dressur."

Die militärische Reiterei war eine ‚Gebrauchsreitweise’. Aus einer anderen Gebrauchsreitweise, dem Westernreiten ist die Natural Horsemanship-Bewegung hervorgegangen. In ihr wird großer Wert auf  natürliche Kommunikationstechniken und eine systematische Erziehung des Pferdes vom Boden aus gelegt und somit einem Pferd vieles von dem beigebracht, was man bei einem Reitpferd für sicheren und harmonischen Umgang benötigt. Diese Erziehung ist notwendig, damit ein Pferd seine instinktiven Verhaltensweisen nach und nach ablegt oder zumindest reduziert und dadurch gelassener, kontrollierbarer und somit sicherer in allen Situationen wird. Auf diesen Aspekt lege ich in meiner Ausbildungs-Methode ‚The Gentle Touch’ (TGT) besonders großen Wert. Ich habe ein systematisches Lernprogramm entwickelt, mit dem Pferdebesitzer, Reiter und Pferde gemeinsam lernen können, harmonischer und sicher miteinander umzugehen.

Die geschilderte Situation von Nicole und ihrem Pferd hätte man durch systematische Vorbereitung vermeiden können. Vorbereitende Übungen sind als Grundsätze in der TGT-Methode verankert und beginnen mit solider Bodenschule:
1. Das Führtraining
2. Die Arbeit am Leitseil
3. Die methodische Veränderung des Angst- und Fluchtverhaltens

Ideal wäre es natürlich, wenn Nicole unter Anleitung eines geschulten TGT-Trainers die Grundlagen mit ihrem Wallach erarbeiten würde, um sie dann selbständig im täglichen Umgang zu festigen. Doch auch aus Lehrvideos und Büchern kann Sie sich wichtige Anregung holen, um die Übungen nacheinander zu durcharbeiten. Die Erfahrung zeigt, dass auch Pferde wie ihr Wallach Ravel davon profitieren können.
Nicole berichtet, dass ihr Pferd hinter ihrem Rücken herum hampelt und in den Strick beißt und sie sogar anrempelt. Hier kann sie mit Führübungen bessere Manieren und mehr Kontrolle erreichen. Die ersten
Übungen erfolgen auf unterschiedlich großen Kreisen. Später wird dann auf gerader Linienführung mit Wendungen um zwei Pylone gearbeitet. Ein gut passendes Nylonhalfter und ein etwa zweieinhalb bis drei Meter langer Führstrick mit einem Karabinerhaken sind alles, was Nicole benötigt. Die Übungen sollte Nicole jeden Tag machen, anfänglich etwa 15 bis 20 Minuten auf einem Reitplatz oder in der Halle, später dann an verschiedenen Orten. Und dann gibt es auch noch die Möglichkeit, durch ein systematisches Desensibilisierungstraining die Schreckhaftigkeit und Unruhe ihres Wallachs hin zu mehr Gelassenheit umzuwandeln. Doch solche Erziehungsübungen sollten genau so sorgfältig vermittelt werden, wie eine gymnastizierende Dressurarbeit. 

Hätte Nicole sich mit der Thematik befasst, so hätte sie gewusst, dass ihre plötzliche "Propelleraktion" mit dem Leitseilende genau die Reaktion des Rückwärtsgehens und Steigens auslösen würde. Auch war es die falsche Reaktion, mit aller Kraft das Seil festzuhalten, als Ravel mit einem Vorderbein darübertrat. Das vier Meter langen Leitseil ermöglicht es, etwas Seil nachzugeben, in kurzen Intervallen Haltedruck zu geben und den Bewegungen des Pferdes zu folgen. Damit hätte Sie die Aufmerksamkeit Ravels wiedergewonnen und ihn nicht in Panik versetzt. Ihr wären diese gravierenden Fehler nicht unterlaufen. Wenn Sie lernt, mit dem Leitseil von ca. 4 m Länge richtig zu arbeiten, dann kommt es auch nicht mehr zu solch gefährlichen Situationen, wie sie geschildert hat. Doch dazu benötigt sie Anleitung und Übung. Mit der richtigen Methode macht das sogar Spaß, und Nicole und ihr Wallach Ravel müssen sich dann nicht mehr auf Ihr Glück verlassen.

Sind Sie auch schon einmal in eine gefährliche Situation mit einem Pferd gekommen?
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