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Einmal einen Rindercheck begleiten, die Weiten Kanadas auf dem Pferderücken erleben und auf einer Ranch urlauben – für Ira Hoch ging dieser Traum in Erfüllung
Fährt man am Spätnachmittag von Toronto aus knapp zwei Stunden südlich Richtung Dufferin County auf der Suche nach der Rawhide Adventure Ranch in Mulmur, so kann es leicht passieren, dass man sich in der Wildnis verliert und, umgeben von wilden Turkeys, Deers oder Porcupines, mit verwirrtem GPS irgendwo im Nirgendwo am Straßenrand strandet. Denn die Ranch liegt nahe des „Bruce Trails“, eines der längsten Wanderwege Kanadas. Er verläuft von Niagara-on-the-Lake bis zum knapp neunhundert Kilometer entfernten, nördlich gelegenen Tobermory an der Nordspitze der Bruce Peninsula am Lake Huron, immer entlang der Niagara-Schichtstufe. Diese Gesteinsstufe, die sich wie eine erhabene und weithin sichtbar Klippe über das Land zieht, wurde im kanadischen Teil seitens der UNESCO zum Biosphären-Reservat erklärt. Das östliche Ende dieser Gesteinsformation liegt bei Rochester, New York. Von dort zieht sie sich in westlicher Richtung weiter Richtung Niagara River, der sich über die Klippen des Escarpments in den Lake Ontario ergießt – ein Spektakel, das als Niagarafälle weltweite Berühmtheit erlangte.
Wie schon die Homepage mahnt: „Do not use your GPS to find us! It will take you through some CRAZY backroads where you don’t want to be!“ Richtig! Das wusste ich jetzt auch! Als ich dann aber endlich Peaceful Valley erreichte und in die Auffahrt der Ranch einbog, war klar: Dieser Ort war es wert, gefunden zu werden! Die Gebäude lagen mit dem Rücken zum Waldrand, von hier aus eröffneten sich in der typischen Landschaft aus weich anmutenden, rollenden Hügeln schier unendliche Flächen aus Grasland. Über 300 Rinder und etwa 40 Pferde lebten hier so frei wie möglich. Für die kommenden Wochen würde das also mein Zuhause sein. Ich stieg aus und schaute mich erst einmal um, und schon hörte ich eine Stimme rufen: „Hey Ira, nice to see you, don’t worry, the dogs are friendly.“ Tatsächlich hatten mich Roady und Rusty, zwei fröhliche, mittelgroße Hundemädchen, längst entdeckt und beflissen angebellt. Ich durfte das B&B beziehen und war begeistert, als wir auf dem Weg zum Zimmer den Gemeinschaftsraum durchquerten. Er glich einem Saloon und der lange Tisch. Das Piano, die vielen liebevoll zusammengetragenen Unikate und die Fachbücher in den Regalen zeugten von einer Menge stimmungsvoller Abende unter Gleichgesinnten, welche die Leidenschaft für Pferde und das Interesse für die Reitweise und Geschichte des Westens teilten. „Meet some of the finest horses east of Calgary“, versprach die Homepage, und es stimmte schon: Während das Herz Albertas western schlug, war hier in Ontario ja eigentlich Rennpferdeland und die Westernreitweise gar nicht so häufig zu finden. Bei der Fahrt übers Land erstreckten sich großzügige Koppeln mit den eleganten weißen Zäunen links und rechts der Straßen und erzählten von noblen Thoroughbredgestüten, auch wenn sich dahinter nun immer mehr Sportpferde oder Ponys fanden. Wollte man aber Westernpferde, Rodeos und Cowboys erleben, dann war man im Westen besser aufgehoben. Was die ländliche Trabrennbahn für Ontario war, bediente dort das regionale Rodeo der kleineren Städte in der Provinz. Der spektakuläre Woodbine Racetrack in Toronto, eine der einflussreichsten Pferderennbahnen der Welt, fand sein Western-Pendant in der Calgary Stampede, dem weltweit größten Rodeo in Alberta im Westen Kanadas. Damit war die Rawhide Adventure Ranch hier in Ontario beides: die große Ausnahme und aufregend anders zugleich! Noch am gleichen Abend lernte ich die Familie kennen. Die Ranch stand auf zwei Standbeinen: dem Reitbetrieb und der Zucht von Black-Angus-Rindern; da ging die Arbeit nie aus. Für einen jungen Gast aus Frankreich, der für eine Saison in allem unterstützte, was rund um die Ranch, die Pferde, die Trailrides und das Cattlework zu tun war, wurde sie zur Familie auf Zeit. Er begleitete das Team bei den Forest Rides und den Cattle Clinics, bei welchen Reitgäste direkt in die Rinderarbeit einbezogen wurden, die Herde auf neue Weideflächen trieben oder eine Auswahl von Rindern abzusondern lernten. Auf den weitläufigen Forest Rides konnten Gäste ihre Reitkenntnisse erweitern. Die Rittführung orientierte sich dabei am gegenwärtigen Stand und den individuellen Zielen des Reiters. Ebenso erlebte er das Training der Pferde und die Methoden dazu hautnah auf den Reitplätzen oder in der Reithalle der Ranch und wurde für einige Monate Teil des Ganzen. Eine exzellente Chance, Reisen mit etwas Abenteuerlust zu verbinden und dabei einen Blick über den Tellerrand in andere Arbeitsweisen zu werfen. Eine Win-win-Situation für beide Seiten, und Bewerber sind auf der Ranch jederzeit gerne gesehen. So fand ich mich gleich am nächsten Morgen im Sattel der Paintstute Dolly wieder, um zum ersten Mal in meinem Leben einen Rindercheck vom Sattel aus zu begleiten. Das bedeutete, die Weiden abzureiten und die Herden zu besuchen. Dabei sahen wir nach den Kälbern, kontrollierten die Gesundheit der Rinder und den Zustand der Zäune. Die Kalbgeburten fanden auf den Weiden statt, und die Kälber blieben bei den Müttern. Die Haltung dieser Rancher zum Land ist von Wertschätzung geprägt. So findet ein achtsames Weidemanagement statt, welches erlaubt, auf Dünger zu verzichten und den natürlichen Rhythmen der Vegetation Raum zu bieten. Auch die Tiere leben gemäß ihrer natürlichen Bedürfnisse, was den Einsatz von Medikamenten auf den Notfall reduziert und die Fruchtbarkeit erhöht. Dieselbe Einstellung teilten die Betreiber einer Farm in der Nachbarschaft, die Gemüse und Mais anbauten und Führungen für interessierte Kunden anboten, ein wundervolles Dinner aus heimischen Produkten in außergewöhnlichem Ambiente inbegriffen.
Vor einem Gatter am Ausgang der Weide hatte sich eine Gruppe Rinder niedergelegt, und einer der mächtigen Bullen, die hier mit ihrer Herde lebten, lag quasi direkt in unserem Weg. „Immer oben bleiben“, erinnerte ich mich an die Anweisungen. Denn die Bullen respektierten die Pferde, aber für Fußgänger könnte es brenzlig werden. Das konnte ich mir gut vorstellen, während mich Dolly souverän an ihm vorbeitrug. Während unseren Ritten überquerten wir immer wieder die hohen Ebenen der Gesteinsstufe, deren Vegetation dem Herbst schon einen kleinen Schritt näher war als unten im Tal. Von der höchsten Plattform des Escarpments aus konnten wir immer wieder eine unglaubliche Weitsicht über das Land genießen – das war ein weiteres Highlight dieser Reise! Die wesentlichen Eindrücke einer Reise liegen in den Momenten, die die Seele berühren. Davon gab es hier viele, dank meiner Gastgeber und Freunde, die mir erlaubten, in ihre Lebenswelten einzutauchen, und die nie müde wurden, mir die Geschichte des Landes nahezubringen und damit die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verknüpfen. Ich hatte magische Begegnungen mit Eulen, Schmetterlingen, Bären und anderen Wegweisern, und irgendwie war darin so oft der Nachhall der Völker, die vor uns hier waren und dieses Land belebt hatten mit ihren Klängen und Mythen. Gerade als ich an sie dachte und dabei über die Weite des Graslandes blickte, erschien auf der weichen Linie der Hügelkuppe der Umriss eines Reiters auf einem getupften Pferd. Beim Näherkommen erkannte ich einen Appaloosa, das Pferd der Nez-Percé-Indianer. Ich war wie vom Donner gerührt von dieser scheinbar zufälligen Schnittstelle meiner Gedanken mit der Erscheinung am Horizont. Es war wie ein Blick in den Rückspiegel. Der Nachhall der Geschichte findet sich überall auf diesem Land!
Ihre Ira Hoch