Interview: Inga Dora Schwarzer       Foto: imago images/imagebroker

Pferde sind Steppen-, Herden-, Flucht- und Beutetiere und zeigen dementsprechende Verhaltensweisen. Für den Reiter ist es wichtig zu verstehen, warum es so und nicht anders reagiert. Je mehr er über die Bedürfnisse weiß, desto eher kann er unerwünschtes Verhalten verhindern und für Wohlbefinden sorgen. In einer achtteiligen Interviewreihe mit Verhaltenstherapeutin Susanne Grun (www.horselearningbysusn.com) schauen wir uns nach und nach verschiedene Verhaltensweisen genauer an – dieses Mal steht Sozialverhalten im Fokus.

 

Welche Verhaltensweisen gehören dazu?

Als Sozialverhalten bezeichnen wir Verhaltenstherapeuten alle Verhaltensweisen, die gegen einen Sozialpartner (Artgenossen) oder ein anderes befreundetes Tier gerichtet sind und auf dessen Reaktion/Aktion abzielen. Also alle Aktivitäten eines Pferdes, die zur innerartlichen  Verständigung und Kommunikation dienen. Alle Formen der Kooperation (gegenseitige Körperpflege) oder Konfrontation (aggressive Konflikte um eine Ressource). Pferde können sogar über entsprechende Sozialisation Freundschaften zu Beutetieren wie Hunden und natürlich auch zu uns Menschen entwickeln.

Welche Bedürfnisse muss der Mensch erfüllen?

Die kompletten sozialen Verhaltensweisen der Pferde sind angeboren. Doch das gegenseitige Verstehen dieser Ausdrucksformen muss von den Pferden erst erlernt werden. Aus diesem Grund ist es für die soziale Entwicklung unserer Fohlen und Jungpferde so enorm wichtig, dass wir ihnen ermöglichen, in Gruppen aufwachsen zu können. In meiner Arbeit stelle ich so oft fest, dass Pferde schlichtweg nicht sozialisiert wurden und eben daraus oft enorme Verhaltensauffälligkeiten entstanden sind. Denn nur wenn die Pferde früh gelernt haben, ihre Ausdrucksformen auch „lesen“ zu können, können sie die Sprache ihrer Artgenossen auch verstehen und sind somit fähig, Rangbeziehungen in angemessener Form zu klären.

Hatte ein Jungpferd beispielsweise nur die eigene Mutter als Sozialpartner, ist meist eine solche Aufzucht die Ursache für eine soziale Fehlentwicklung. Diese Pferde ohne ausreichende Sozialerfahrung in den ersten Lebensjahren bleiben ihr Leben lang problematisch, sobald sie in engeren Kontakt mit anderen Pferden treten. Dieses soziale Verhalten kann ich als Verhaltenstherapeutin dann nicht mehr „antrainieren“ oder korrigieren. Diese Pferde eignen sich dann nicht für die Gruppenhaltung, da das Leben in der Herde für sie nur Stress bedeutet und dann entweder ihr eigenes Verletzungsrisiko oder das der anderen Pferde überproportional hoch ist. Deshalb an dieser Stelle immer mein Aufruf an alle Fohlen-/Jungpferdebesitzer: „Haltet eure Pferde in Gruppen mit möglichst gleichaltrigen Artgenossen, nur dann entwickelt euer Pferd ein korrektes Sozialverhalten.“

Was passiert, wenn diese Verhaltensweisen nicht ausgelebt werden können?

Meist dann werde ich gerufen und darf dann ausbügeln, was der Mensch selbst vorher (meist unbewusst) negativ herbeigeführt hat. Kann ein Fohlen/Jungpferd nicht durch das Aufwachsen in der Herde lernen, seine Artgenossen zu verstehen, wird es das auch später im Erwachsenenalter von mir nicht mehr lernen können. Denn ich bin ja kein Pferd. Hier muss ich dann ganz klar die Einzelhaltung in einer hellen, geräumigen Paddockbox mit Kontakt zu Artgenossen empfehlen.

Es gibt z.B. aber Rassen, die haben ein ererbtes einzelgängerisches Wesen mit einem großen Individualabstand. Etwa Andalusier, Lusitanos, Lippizaner oder relativ viele Traber. Dort beobachte ich sehr häufig, dass diese Tiere unverträglich werden, wenn ihre Individualdistanz unterschritten wird oder sie (vom Menschen) dazu gezwungen werden, ein kleines Areal zu bewohnen. In der Herde weiden sie meist allein oder nur mit ihrem Fohlen und schließen sich weniger gern zum Fellkraulen oder den sonst üblichen Gruppen zusammen. Im Stall neigen diese Rassen dann oft dazu, sogenannte Boxenschläger zu werden, weil sie die für sie zu dicht aufgestallten Pferde vertreiben möchten. Kurz gesagt: Wenn wir Menschen den Pferden nicht möglich machen, ihre Sozialerfahrung zu lernen und ihre ganz eigene individuelle Distanz berücksichtigen oder sie einzeln 24 Stunden in den Boxen halten, entstehen früher oder später unerwünschte Verhaltensweisen oder gar Verhaltensauffälligkeiten. Es ist ein Ammenmärchen, dass es dem Pferd reichen würde, wenn es uns Menschen als Freund hat und wir es täglich zwei Stunden besuchen. Nein, ein Pferd braucht immer Artgenossen um sich.

Wie kann sich der Mensch dieses Verhalten zu Nutze machen?

Pferde haben als soziale Wesen das starke Bedürfnis nach Freundschaft bzw. das Eingehen von Bindungen, also das ganz intensive Bedürfnis nach sozialem Kontakt, und immer die Bereitschaft, anderen nachzufolgen. Pferde können ganz eindeutig Sympathien und Antipathien gegenüber anderen Individuen haben. Diese Beziehungen sind genauso komplex wie die zwischen Menschen. Ich empfinde es als total unpassend und inkompetent, wenn manche Pferdeleute das Zusammenleben der Pferde als einfache „Dominanz-Hierarchie“ beschreiben. Denn das ist es nicht.

Zu Nutze machen kann ich mir dieses Bedürfnis nach Beziehungen, wenn ich z.B. neue Pferde in eine bestehende Herde eingliedern möchte. Dieses „gemeinsame Schicksal“ der neuen Pferde verbindet sie, wenn auch vielleicht nur anfangs, für eine kurze Zeit. Wenn ich eine neue Herde bilden möchte (und in unseren Reitställen sind die Herden ja menschengemacht, fluktuativ, unnatürlich, aber selbstverständlich nicht anders möglich) kann ich auch mehrere „gleiche“ Pferde integrieren (gleiches Alter oder gleiche Fellfarbe). Stelle ich fest, dass sich Reiter und Pferd nicht vertrauen, mache ich mir in der Arbeit oft das Bedürfnis der Pflege/Fellkraulen zu Nutze. In der Herde sehen wir die Befriedigung dieses Bedürfnisses oft, wenn sich die Pferde gegenseitig Mähne, Genick, den oberen Rücken und den Schweifansatz beknabbern. Ein Pferd kann zwar seinen Rücken im Staub wälzen oder ihn an einem Zweig reiben, doch dies sind unzulängliche Ersatzmaßnahmen. Nur die fein abgestimmte Knabberei des anderen Pferdes vermag die notwendige Pflege gewährleisten. Sich gegenseitig zu pflegen ist für die Pferde auch immer ein Ausdruck von Zuneigung. Sie kraulen sich auch dann, wenn es keiner Pflege bedarf. Dies hat im Laufe der Verhaltensforschung sogar die Bedeutung eines Freundschaftsbeweises angenommen. Zur Folge hat dies, dass ein Pferd das Striegeln durch den Menschen nicht lediglich als Fellpflege, sondern auch als Zeichen der Zuneigung empfindet. Die Pferd-Mensch-Beziehung gewinnt dadurch an Vertrauen, und das Pferd wird sich bei seinem Menschen dafür erkenntlich zeigen. In meinen Augen gehört also die Fellpflege durch den Menschen unbedingt dazu. Leider sehe ich oft, dass die sogenannten Bereiter ihr Berittpferd gar nicht mehr selbst putzen, sondern auf das fertig gesattelte Pferd steigen. Also mein Plädoyer an alle Reiter: Stärkt die Bindung zu eurem Vierbeiner und putzt und pflegt sie täglich selbst!

Welche Herausforderung für den Reiter können sich aus dem Herdentrieb ergeben?

Da das Pferd als Herdentier und Fluchttier erst mal nur in der Herde Schutz und Sicherheit empfindet, stehen manche Reiter oft vor immensen Herausforderungen, wenn sie ihr Pferd von der Koppel holen oder alleine ausreiten möchten: Das Pferd klebt am Stall bzw. an der Herde. Warum tut es das? Nicht, weil es den Menschen nicht mag. Sondern weil es sich durch seinen Menschen nicht sicher und beschützt fühlt. Es fühlt sich also Gefahren ausgesetzt, sei es die Gefahr, zur Beute zu werden oder die Gefahr, kein Futter zu finden. Es hat Stress, wird unhändelbar und somit für den Menschen nicht mehr „nutzbar“. Obwohl der Mensch doch nur das Beste für sein Tier möchte, es natürlich vor Gefahren beschützt und ihm auch Fressen gibt. Jedoch in seiner Qualifikation und seiner Aufgabe als Beschützer und Sicherheitsgeber dennoch scheitert. Sei es, weil der Mensch am Smartphone spielt, während er das Pferd zum Putzplatz bringt, oder beim Ausritt mit den Gedanken in der Arbeit ist oder den nächsten Tag plant.

Ich erlebe auch ganz oft, dass die Menschen Angst vor ihrem Pferd haben, wenn es nervös wird. Hier befinden wir uns ganz klar in einem Teufelskreis, den es unbedingt zu durchbrechen gilt. Doch wann fühlt sich das Pferd bei uns sicher? Es fühlt sich dann sicher, wenn ich als Mensch mit meiner Aufmerksamkeit zu 100 Prozent im Hier und Jetzt bin. Nicht zu 100 Prozent beim Pferd, was viele auch glauben. Sie gehen dann mit ihrem Pferd spazieren, achten zu 100 Prozent auf ihren Liebling, achten darauf, dass er nicht stolpert, nicht von Bremsen gestochen wird und der Spaziergang nicht zu lang, zu steil, zu nass oder zu uneben wird. Sie achten darauf, dass die Decke nicht zu dünn oder zu dick ist etc. Doch das ist es nicht, was dem Pferd Sicherheit und Schutz bietet.

Ich biete als Mensch dann Sicherheit und Schutz, wenn ich die Entscheidungen treffe, und zwar jede. Das hat nichts mit dem Klau des Willens des Pferdes zu tun oder dem Unterdrücken. Es signalisiert aber: Ich weiß, wo Gefahr besteht, ich weiß, wo es sicher ist. Ich bin mir sicher, dass dort hinter dem Haus kein Wolf kommt. Ich gehe aufrecht, habe die Umgebung im Blick, bin mit den Gedanken eben genau im Hier und Jetzt. Es ist meine Aufgabe als Mensch, für Sicherheit zu sorgen. Trifft das Pferd die Entscheidung, links abzubiegen, kann das sehr schnell gefährlich werden. Die Aufgabe des Pferdes ist, auf mich zu achten, auf seine eigenen Schritte, dass es nicht stolpert etc. Es richtet sich liebend gerne nach mir und überlässt mir die Entscheidung, denn nur etwa zwei Prozent unserer domestizierten Pferde haben einen Führungsanspruch. Die Herausforderung für uns Reiter besteht also darin, sich selbst zu sein, echt zu sein, emotional (niemals neutral und emotionslos im Pferdetraining sein!).

Übrigens kann ich mir das alles auch zu Nutze machen in meiner Arbeit mit dem Pferd, wenn ich es lobe oder tadle. Wenn ich ihm spiegle, was richtig und was falsch in der Arbeit mit mir ist. Feedback gebe. So weiß das Pferd immer, woran es ist, und fühlt sich sicher. Und zeitgleich wird es mich als Führungspersönlichkeit akzeptieren und gern annehmen und gern seine Herde verlassen.