Text: Aline Müller        Foto: Getty Images/yulkapopkova

Mit ein bisschen Übung lernen Sie, Ihre eigenen Verhaltens- und Denkmuster zu erkennen, diese zu verändern und sich von Bewertungen zu befreien. So können Sie nicht nur Situationen neutraler einschätzen, sondern auch mögliche Probleme fair lösen und die Bindung zu Ihrem Pferd stärken.

Stellen Sie sich vor, ein Lehrer unterrichtet am Morgen eine vierte Klasse in der Grundschule. An diesem Tag sollen die Schüler einen Aufsatz über ihr schönstes Ferienerlebnis schreiben. Einige sind schon kleine Meister im Geschichtenerzählen. Nach der großen Pause wechselt der Lehrer in eine erste Klasse. Die Kinder sind gerade dabei, erste Buchstaben und Wörter zu lernen. Hier ist viel Geduld und Ruhe gefordert, um die Kleinsten zu motivieren und ihnen etwas beizubringen. Im Gegensatz zu den älteren Schülern muss der Lehrer seine Erwartungen entsprechend verändern, um wertfrei unterrichten zu können. Es wäre alles andere als sinnvoll, eine erste Klasse genauso wie eine vierte Klasse zu behandeln. Übertragen Sie dieses Beispiel nun auf das Reiten: Junge Pferde sind wie Grundschüler, sie müssen erst das ABC lernen. Im Laufe der Ausbildung können sie dazu befähigt werden, komplexere Aufgaben zu lösen. Als Reiter tragen wir die Verantwortung. Wir müssen uns auf das jeweilige Pferd einstellen, um es zwar zu fördern, aber nicht zu überfordern.

Erwartungen überdenken

Ein wichtiger Aspekt ist dabei, sowohl die eigenen Erwartungen als auch verinnerlichte Verhaltens- und Denkmuster zu erkennen und zu überdenken. Beobachten Sie in der nächsten Zeit einmal genau, mit welchen Gefühlen und Gedanken Sie Ihrem Pferd begegnen. Fragen Sie sich dann, inwieweit Ihre persönliche Einstellung von außen beeinflusst ist. Beispielsweise neigen wir dazu, uns mit anderen Menschen zu vergleichen. Wenn ein Reiter in der Halle perfekte Lektionen mit einem gut ausgebildeten Dressurpferd reitet oder ein anderer den Trainingsparcours ohne Fehler absolviert, dann wollen wir das auch schaffen und vergessen dabei unter Umständen, dass unser Pferd diesen Anforderungen noch gar nicht gerecht werden kann. Möglicherweise überfordern wir uns sogar selbst. Wir sind plötzlich unzufrieden, was unser Vierbeiner ganz genau wahrnimmt. Es ist nicht immer leicht, einen gewissen Abstand zur Außenwelt zu gewinnen und sich allein auf die aktuelle Situation einzustellen. Menschen sind „Gewohnheitstiere“. Viele Prozesse laufen unbewusst ab, und nur wenige setzen sich mit den eigenen Mustern auseinander. Doch das sollte Sie nicht davon abhalten, genau daran zu arbeiten. Bedenken Sie, dass jede Verhaltensänderung Zeit braucht, und setzen Sie sich nicht selbst unter Druck. Die Bereitschaft, etwas zu ändern, ist bereits der erste wichtige Schritt.

Fair zum Pferd

Eine gute Beziehung zwischen Mensch und Tier beruht auf Vertrauen. Dieses kann allerdings nur entstehen und gestärkt werden, wenn Sie in Ihrem Verhalten stets fair bleiben. Ein Gegenspieler der Fairness ist das Urteilen. Wissen Sie eigentlich, wie oft Sie im Alltag über Menschen oder Situationen urteilen, ohne es zu merken, und ob Ihr Urteil wirklich der Wahrheit entspricht? Keiner hört gerne, dass er in Schubladen denkt, aber manchmal passiert genau das automatisch. Auch gegenüber unseren Pferden sind wir nicht immer wertfrei: Wir stellen unsere Erwartungen an erste Stelle oder sind frustriert, wenn etwas nicht funktioniert. Wir suchen nach Gründen für ein bestimmtes Verhalten unseres Vierbeiners, doch um die wahre Ursache zu finden, müssen wir uns mit der Natur des Pferdes auseinandersetzen und lernen, die jeweilige Situation mit Abstand zu betrachten. Auch in unserem Denken sind wir in einer gewissen Gewohnheit gefangen. Die Gegebenheiten aus einer neuen Perspektive zu betrachten kann ein Schlüssel zu einer harmonischen Mensch-Pferd-Beziehung und zu erfolgreichem Reiten sein.

… das Thema des Monats in der Mai-Ausgabe ist „Raus aus der Gedankenfalle“. Verändern Sie Routinen und werden Sie zum besseren Reiter – alles Wichtige finden Sie dafür in der aktuellen Ausgabe.