Interview: Jessica Classen                       Foto: Frank Sorge

Viele Hengste fristen ein trostloses Leben – weil der Mensch nicht dazu in der Lage ist, sie artgerecht zu halten. Die äußeren Umstände werden als Ausrede genutzt, um Hengste wegzusperren: Sie dürfen nicht raus, erst recht nicht gemeinsam mit anderen Pferden, und in die Nähe von Stuten schon einmal gar nicht. Pferdepsychologin Daniela Bühler erklärt, worauf bei der Hengsthaltung zu achten ist, damit die Pferde auch von ihren Besitzern verstanden werden.

 

Wie leben Hengste in freier Wildbahn?

Eine Pferdefamilie besteht aus durchschnittlich fünf bis maximal zehn Tieren. Zu jeder Pferdefamilie, gehören immer ein Hengst als Familienoberhaupt und eine Stute, meistens mit einem Saugfohlen und ihrem Jährling vom Vorjahr – egal ob Stute oder Junghengst. Eine Pferdefamilie ist die kleinste soziale Einheit innerhalb der Herde. Ein Hengst strebt danach, möglichst viele Stuten zu besitzen, damit er seine Gene weitergeben kann. Eine natürliche Pferdeherde teilt sich, je nach ihrer Gesamtgröße, in wenige oder zahlreiche Familienverbände auf. Wenn genügend Weidefläche zur Verfügung ist, weiden Familienverbände getrennt voneinander in sogenannten Streifengebieten. Während der heißen Mittagsstunden bilden sie zum Dösen eher wieder eine Herde und stehen näher beieinander, um die Fliegen in antiparalleler Stellung zu vertreiben. Auch wurde beobachtet, dass Hengste gegenseitige Fellpflege betreiben, insbesondere, wenn sie miteinander verwandt sind. Bei Einhufern ist eine voll ausgereifte Psyche notwendig, um eine Familie als Leithengst führen zu können.

Wann erreicht ein Hengst seine psychische Reife?

Die psychische Reife ist im Alter von fünf bis sechs Jahren erreicht, je nach Rasse. Junghengste, die im Alter von zwei und drei Jahren unter menschlicher Obhut zum Decken eingesetzt werden, sind physisch und psychisch überfordert – dies kann bis zum Trauma führen. Ein Trauma macht sich nicht unmittelbar bemerkbar. Es kann Jahre dauern, bis es ausbricht, vielfach in Kombination mit dem Einreiten oder einer nicht artgerechten Haltung. Stuten, die einem Hengst angehören, bleiben grundsätzlich sehr beständig bei diesem Hengst.

Viele Menschen neigen dazu, einen Hengst wegzu­sperren, weil sie sein Verhalten nicht ­tolerieren. Wie erlernt ein Hengst sein Verhalten?

Grundsätzlich wird das Verhalten anfänglich aus eigener Erfahrung mit der Mutterstute und später aus Beobachtungen vom Leithengst gelernt. Ein Hengstfohlen hat oft unter menschlicher Obhut nicht die Möglichkeit, durch Ausprobieren und Nachahmen von seinem Hengst-„Vater“ – wie in der Natur – ein natürliches Sozialverhalten zu erlernen. Vielfach weiden Fohlen unter menschlicher Obhut mit den Mutterstuten zusammen, oft auch ohne Wallache. Daraus geht hervor, dass die meisten unserer Pferde unnatürlich aufwachsen, sodass sie kaum ein vollständiges Sozialverhalten entwickeln können. Dies gilt für Stuten- und Hengstfohlen gleichermaßen. Eingriffe der Züchter und Besitzer führen zu Veränderungen, weil die meisten Hengste in Einzel­boxen eingesperrt sind. Diese Tatsache begünstigt Stereotypen.

Wie läuft das Sexualverhalten eines Hengstes ab?

Das Sexualverhalten bei Hengsten wird durch ein im Zentralnervensystem liegendes Zentrum gesteuert. Beim heranwachsenden Hengst stimuliert eine zunehmende Produktion von Androgenen männliche Verhaltensmuster. Unerfahrene Hengste bespringen auch Stuten, die kein Rosseverhalten zeigen, oder sogar Wallache. Erst negative Erfahrungen mit nicht rossenden Stuten führen meist dazu, dass der Hengst vorsichtiger wird und abwartet, ob die Stute Abwehrverhalten zeigt. Unerfahrene Hengste bespringen Stuten oft wahllos aus jeder Richtung und müssen die Einnahme der richtigen Position, die weitere Ausführung des Paarungsaktes, erst durch „Versuch und Irrtum“ lernen. Der Paarungsakt selber stellt beim Hengst eine Reflexkombination dar, die aus einer Reihe angeborener, sich gegenseitig auslösender Handlungen besteht. Der Deckakt ist Instinktverhalten und kann nicht willentlich gesteuert werden.

Wie wird die Haltung eines Hengstes artgerecht?

Die optimale Haltung eines Hengstes unterscheidet sich nicht von der eines anderen Pferdes. Das Problem besteht darin, dass sie in den meisten Ställen nur schwerer praktisch umzusetzen ist. Je näher eine Haltungsform an den natürlichen Bedürfnissen des Pferdes ausgerichtet ist, desto besser ist es für die Psyche des Tieres. Die dabei wichtigsten Voraussetzungen sind auch bei Hengsten der Kontakt zu anderen Pferden. Leider ist es immer noch so, dass man Hengste in Einzelhaltung antrifft. Das sorgt wiederum für Stress beim Pferd, und jede Form von Stress wirkt sich langfristig negativ auf den gesamten Organismus aus. Die Folgen können unterschiedlichste stressbedingte Erkrankungen sein; das gesamte Immunsystem wird zunehmend belastet, und Verhaltensstörungen können auftreten, beispielsweise Automutilation – eine Selbstzerstümmelung, bei der sich Hengste selber in die Flanken beißen. Sie kommt ausschließlich bei Pferden vor, die keine sozialen Kontakte pflegen können. Die psychischen Schäden, die folgen, können von Depressionen bis hin zu einer erhöhten Aggressionsbereitschaft reichen.

 

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