Interview: Nicole Audrit     Foto: www.Slawik.com

Das Pferd steht mit weit vorgestellten Vorderbeinen da und pendelt mit dem Kopf hin und her, wobei es das eigene Körpergewicht zwischen der linken und rechten Vordergliedmaße hin und her verlagert – diese Verhaltensstörung wird als Weben bezeichnet. Fachtierärztin für Pferde Dr. Veronika Klein (www.kernkompetenz-pferd.de) klärt, was es mit der Verhaltensstörung Weben auf sich hat.

 

Was sind die Ursachen des Webens und in welchen Situationen zeigen Pferde dieses Verhalten?

Weben ist eine stereotype Verhaltensstörung: Also ein Verhalten, das stark vom Normalverhalten in Häufigkeit und Frequenz abweicht und einen zwanghaften Charakter hat. Verhaltensstörungen entwickeln sich über einen längeren Zeitraum durch eine chronische Überforderung der Anpassungsfähigkeit, beispielsweise durch Stress, Frustration, Schmerzen oder Langeweile. Dabei sind Haltung, Training, Fütterung und der Umgang mit dem Pferd entscheidende Einflussfaktoren. Zusätzlich steht ganz am Anfang häufig ein einschneidendes, negatives Erlebnis – beispielsweise das abrupte Absetzen der Fohlen. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass bei 80 Prozent der Pferde mit Stereotypien die Ursache für die Störung nicht in der aktuellen Haltungs- und Nutzungssituation, sondern bereits im Fohlenalter bis zum sechsten Lebensjahr lag.

Bei freilebenden Pferden kommen Verhaltensstörungen nicht vor, sie stehen also im direkten Zusammenhang mit dem Menschen. Ein gesundes Pferd zeigt ein arttypisches Normalverhalten als Flucht-, Lauf-, Steppen- und Herdentier. Kommt es nun zu Konfliktsituationen, hat das Pferd zunächst drei Möglichkeiten, damit umzugehen:

Umorientiertes Verhalten: Ein Reiz motiviert und hemmt gleichzeitig ein Verhalten. Praxisbeispiel ist der Probierhengst auf der Deckstation: Der Hengst steht regelmäßig an der Stute und möchte den Deckakt ausführen, wird aber jedes Mal ohne diesen vollzogen zu haben von der Stute entfernt. Das führt zu einer Umorientierung des Verhaltens auf ein Ausweichobjekt, dies kann in Aggression gegen sich selber, Artgenossen oder den Menschen enden.

Ambivalentes Verhalten: Ein Reiz verursacht zwei mögliche Verhaltensweisen, und das Pferd schwankt zwischen den beiden, und daher laufen beide nicht vollständig ab. Ein Praxisbeispiel ist ein neues Objekt in der Reitbahn: Das Pferd schwankt zwischen seinem Flucht- und Erkundungsverhalten, und statt wegzulaufen oder hinzugehen, erstarrt das Pferd in der Situation.

Übersprungsverhalten: Das Verhalten wird in bestimmten Situationen ausgeführt und ist in seinem spezifischen Funktionskreislauf auch sinnvoll. Zeigt das Pferd nun das Verhalten in einem anderen Kontext ohne Funktion, um Erregungszustände abzubauen, handelt es sich um Übersprungsverhalten. Beispiele aus der Praxis sind das Leerkauen oder Kopfschlagen.

Dies sind „normale“ Strategien, mit Konflikten umzugehen. Davon abzugrenzen ist das Problemverhalten. Hier reagiert das Pferd auf die Einschränkungen seines Normalverhaltens – in Bezug auf Haltung, Training, Fütterung und Umgang – mit Anpassungs- und Bewältigungsstrategien. Dazu zählen die Verhaltensstörungen, die nur ausgeführt werden, wenn der aktuelle Auslöser vorhanden ist. Im Lauf der Zeit verselbstständigt sich das Verhalten, und der Auslöser ist nicht mehr ersichtlich. Das Pferd durchläuft dabei drei Stadien:

1. Stadium: Das Verhalten wird kurz, aber sehr häufig ausgeführt. Die Pferde zeigen schon jetzt Veränderungen im Schlafverhalten.

2. Stadium: Das Verhalten wird seltener ausgeführt, allerdings über eine längere Zeit. Das Pferd unterbricht das Verhalten selbstständig zwischendurch. In dieser Phase zeigen die Pferde Defizite in der Lernfähigkeit, Schlafstörungen und Abweichungen im Sozialverhalten.

3. Stadium: Das Verhalten kann nur noch durch deutliche äußere Reize unterbrochen werden, und die Pferde haben Schlafstörungen, eine reduzierte Futteraufnahme sowie Störungen im Sozialverhalten.

Können Verhaltensstörungen therapiert werden?

Eine Therapie hat meist nur eine gute Prognose, wenn besonders früh damit begonnen wird. Wichtige Punkte sind die Optimierung von Haltung und Fütterung sowie dem Umgang und Training. In den ersten beiden Stadien ist die Verhaltensstörung noch gut therapierbar. Ist sie allerdings etabliert, so lässt sie sich meist nicht mehr vollständig therapieren, da es zu strukturellen Veränderungen im Gehirn gekommen ist. Eine weitere Therapiemöglichkeiten ist zum Beispiel die Gabe von L-Tryptophan. Es passiert die Gehirn-Liqour-Schranke und modifiziert im Gehirn die Botenstoffe. Die Wirkung hält allerdings nur so lange an, wie es dem Pferd verabreicht wird. Teilweise werden auch sehr gute Resultate mit der Akupunktur erzielt.

In Bezug auf das Weben gibt es viele Gerüchte – von Schäden an den Vorderbeinen bis zum Abschauen vom Boxennachbarn. Wie sieht die Realität aus?

Es wird immer wieder behauptet, dass Weben zu Gelenks- oder Sehnenproblemen führt, dies ist allerdings wissenschaftlich nicht haltbar. Verschiedene Studien zeigen, dass bei webenden Pferden

keine Häufung von Gesundheitsschäden in den Vordergliedmaßen festgestellt werden konnte. Für die Annahme, Pferde könnten sich stereotype Verhaltensstörungen abschauen, gibt es bisher keine wissenschaftlichen Beweise. Die strukturellen Gehirnveränderungen entstehen über eine längere Zeit und werden durch chronische Überforderung der Anpassungsfähigkeit ausgelöst und nicht über das Nachahmen.