Text: Lara Wassermann & Nicole Audrit        Fotos: www.Slawik.com

Über den Tellerrand zu schauen kann sowohl bei der Problemlösung als auch bei dem Erlernen neuer Lektionen extrem von Vorteil sein. Profi s der FN-Reitweise, des Western- und Barockreitens erklären ihre Trainingsansätze.

UNSERE EXPERTEN

Sofie Eckebrecht lebt schon ihr ganzes Leben mit Pferden zusammen. Sie wurde mehrfach Regio-Jahreschampion der NRHA NRW und startete erfolgreich für den deutschen FEINationalkader Reining der Junioren. Ihr Team errang den Vize-Europameistertitel. Sie arbeitet als Western-Trainerin in Siegburg. www.sofie-eckebrecht-reining-westerntraining.com

Dr. Britta Schöffmann reitet seit ihrem sechsten Lebensjahr. Die ehemalige Grand-Prix- Reiterin und Trägerin des Goldenen Reitabzeichens ist Sportwissenschaftlerin, Journalistin, Turnierrichterin sowie Autorin von Lehr-DVDs und Fachbüchern. In ihrem Buch „Lektionen richtig reiten“ (Kosmos Verlag) findet man alle Dressurübungen im Überblick. www.britta-schoeffmann.de

Corinna Hengefeld bildet nach klassisch-barocken Grundsätzen aus. Sie verbindet für ein individuelles Ausbildungskonzept bewusst Inhalte unterschiedlicher Reitweisen. Dementsprechend ist ihr Werdegang vielschichtig: Nach ihrer Ausbildung bei Maestre Luis Valenca folgten u. a. Stationen bei Manuel Jorge de Oliveira, Horst Becker, Angelika Graf. www.equi-art.eu

Das sagen sie zum Thema „Seitengänge“: 

Dr. Britta Schöffmann: Das ist ein Riesenthema, das eigentlich nicht in ein paar Sätzen zu beantworten ist. Zunächst unterscheidet man zwischen Seitwärtsbewegungen, das heißt Bewegungen, die in Stellung gegen die Bewegungsrichtung seitwärts führen, aber ohne Biegung geritten werden. Dazu gehören Vorhandwendungen und alle Arten des Schenkelweichens, das im Arbeitstempo in Schritt und Trab geritten wird. Bei den Seitengängen Travers, Traversale und Renvers ist das Pferd dagegen versammelt in Bewegungsrichtung gestellt und gebogen. Das Schulterherein gehört zu den Seitengängen, da es in Längsbiegung geritten wird – allerdings gegen die Bewegungsrichtung. Ganz schön kompliziert 🙂 Anfangen sollte man mit den Seitwärtsbewegungen, denn darüber lernt das Pferd, dem seitwärts treibenden Schenkel zu weichen. Erst wenn das gut klappt, sollte man sich an die Seitengänge heranwagen. Hier steht das Schulterherein eigentlich am Anfang, dann folgen Travers und Renvers und die Traversalen. Voraussetzung dafür ist: Versammlung, Akzeptanz der diagonalen Hilfen, Reaktion auf den seitwärtstreibenden Schenkel. Der Vorteil der Seitwärtsbewegungen und Seitengänge: Das Pferd wird in der Längsachse beweglicher und beansprucht un stärkt Muskelpartien, die es im reinen Geradeaus nicht ansprechen würde.

Sofie Eckebrecht: Damit das Pferd versteht, was man von ihm möchte, fange ich zunächst mit der Schulterkontrolle an. Dabei kann mit einfachem Schenkelweichen begonnen werden bis hin zu Volten in Außenstellung. Darüber hinaus muss das Pferd lernen die Hüfte zu verschieben, sowohl herein als auch heraus. Erst wenn das Pferd Schulter und Hinterhand zu bewegen weiß, beginne ich mit Vorwärts-seitwärts-Bewegungen, dabei bleibt das Pferd in Bewegungsrichtung gestellt. Ich verwende diese Übung, um Akzeptanz am Schenkel abzufragen und die Hinterhand zu aktivieren. Dafür lasse ich auch mal die Hinterhand minimal führen. Da die Lektion beim Westernreiten nicht abgefragt wird, kann sie im Training auch mit einem leichten Führen der Hinterhand abgefragt werden. Zum Beispiel dann, wenn das Pferd dazu neigt, die Hinterhand hinterherlaufen zulassen. Eine Schwierigkeit besteht darin, dass Pferd exakt zwischen den Hilfen zu haben und jeden Schritt zu begleiten, um nach Bedarf an der Schulter oder Hinterhand Hilfestellung zu geben. Am besten beginnt man einen Seitengang auf einer Geraden. Man sollte das Pferd vorsichtig aufnehmen und an das Gebiss heran arbeiten, bis das Pferd nachgibt und in sich gerade läuft. Erst dann beginnt man das Pferd in die Bewegungsrichtung zu stellen und mit dem äußeren Bein etwas hinter dem Gurt zu treiben. Gleichzeitig muss der innere Schenkel am Gurt bleiben, um die Schulter zu begrenzen, damit diese nicht zu schnell wird.

Corinna Hengefeld: Durch Seitengänge – insbesondere das Schulterherein – lassen sich nahezu alle Rittigkeitsprobleme lösen. Aus diesem Grund bin ich auch der Meinung, dass die Ausbildung des Pferdes ohne Seitengänge nicht möglich ist. Schon Nuno Oliveira sagte zu Recht: „Das Schulterherein ist das Aspirin der Reitkunst.“ Durch die Lektion Schulterherein lassen sich durch die Biegung viele Probleme in der Anlehnung und Durchlässigkeit lösen. Zudem kann man sehr gut mit der Versammlung des Pferdes beginnen. Und zu guter Letzt sollte man nicht die enormen, positiven Effekte auf die Muskulatur des Pferdes unterschätzen: Das Seitwärtstreten hat einen stärkenden Effekt auf die gesamte Muskulatur. Leider wird die klassisch-barocke Reitweise fälschlicherweise häufig auf die Seitengänge reduziert: Natürlich nehmen Seitengänge einen essenziellen Part in der Ausbildung von Pferd und Reiter ein, allerdings müssen sie sinnvoll und in Maßen eingesetzt werden. Werden sie zu früh in der Ausbildung eingesetzt, ist das Resultat häufig nur ein Seitwärtsgehen, aber kein Seitengang. Generell darf man das eigentliche Ziel – die Geraderichtung des Pferdes – nicht aus den Augen verlieren. Seitengänge können hierzu einen großen Beitrag leisten, beherbergen jedoch auch die Gefahr, dass das Pferd schiefer wird und beispielsweise ins Travers flüchtet. Mit einem Jungpferd beginne ich Seitengänge zunächst an der Hand, um diesem eine Idee der seitwärtstreibenden bzw. -weisenden Hilfe zu vermitteln. Während ich vom Boden aus die Seitengänge relativ früh in die Ausbildung des Pferdes integriere, warte ich unterm Sattel bis das Pferd sicher in allen Gangarten taktklar in der Anlehnung läuft – meist ist dies nach ein bis zwei Jahren der Fall. In diesem Zusammenhang muss auch das Schenkelweichen genannt werden – auch wenn es nicht zu den eigentlichen Seitengängen zählt. Ich nutze es sehr gerne und effektiv als Vorbereitung für die eigentlichen Seitengänge, da es für das Pferd einfach zu erlernen ist.

…weitere Ansätze aus verschiedenen Reitweisen, unter anderem zu den Themen Anlehnung und Galopp, sowie guckige, triebige und eilige Pferde, finden Sie im Thema des Monats der Dezember-Ausgabe.