Text: Nicole Audrit     Foto: www.Slawik.com

Das Thema „Vorwärts-Abwärts“ löst aktuell in der Reiterwelt viele Diskussionen aus – vom unverzichtbaren Ausbildungselement bis zum schädlichen Unsinn kursieren alle Meinungen. Wir haben diese Haltung sowohl unter historischen als auch biomechanischen Gesichtspunkten genauer betrachtet.

Der Begriff „Vorwärts-Abwärts“ geistert durch die Reiterwelt – in Magazinen und im Internet finden sich unzählige Beiträge. Leider herrscht in Bezug auf dieses Thema – ähnlich wie bei der Versammlung – ein großes Potenzial an Fehlinterpretationen und Missverständnissen. Verkompliziert wird die ganze Angelegenheit zudem noch durch die Spaltung in Befürworter und Kritiker des Vorwärts-Abwärts im Bereich der Trainer, Ausbilder und Tierärzte. Aus diesem Grund haben wir uns mit der Dressurreiterin und Sportwissenschaftlerin Dr. Britta Schöffmann und dem Tierarzt Dr. Björn Nolting – beides Befürworter des Vorwärts-Abwärts – und Richard Vizethum, Trainer und Historiker, sowie der Tierärztin Dr. Birgit Schock – beide lehnen diese Haltung kategorisch ab – diesem Thema genähert, um dem Mythos auf die Schliche zu kommen.

Bevor es um die Frage des Sinns oder Unsinns dieser Haltung geht, muss definiert werden, was genau darunter zu verstehen ist. Letztlich meinen die beiden Begriffe „Vorwärts-Abwärts“ und „Dehnungshaltung“ dasselbe, erklärt Dr. Britta Schöffmann: „Eigentlich ist Dehnungshaltung das korrekte Wort, da Vorwärts-Abwärts lediglich die Richtung, in die die Dehnung geschieht, beschreibt. Im Laufe der Jahre hat sich daraus – vermutlich aus menschlicher Faulheit und der Neigung, alles zu verkürzen – der Begriff Vorwärts-Abwärts verselbstständigt.“ In diesem Artikel werden die beide Begriffe synonym verwendet.

Vorwärts-Abwärts – aber richtig!

Den Begriff Vorwärts-Abwärts haben alle Reiter schon einmal gehört – die Vorstellung stimmt allerdings nicht immer mit den reellen Anforderungen an diese Übung überein. Nur weil ein Pferd den Hals fallen lässt, läuft es nicht zwangsläufig in korrekter Dehnungshaltung. Schaut man sich in den meisten Reithallen um, so sieht man viele Varianten der Dehnung, die mit der korrekten Haltung wenig gemein haben: In der einen Ecke wird das Pferd mit wechselseitiger Handeinwirkung in die Tiefe „gefummelt“, in der anderen Ecke läuft das Pferd am langen Zügel ohne Kontakt zur Reiterhand mit der Nase fast am Boden. Bei einer reellen Dehnungshaltung kommt es jedoch auf viele verschiedene Faktoren an. Die Vorstellung von „tiefe Kopf-Hals-Position ist gleich Vorwärts-Abwärts und somit gut“ muss gleich zu Beginn revidiert werden. „Der häufigste Fehler liegt in einer falschen Vorstellung der Dehnungshaltung“, warnt Dr. Britta Schöffmann. „Schaut man sich Fotos von vermeintlich ‚gutem‘ Vorwärts-Abwärts im Internet an, sieht man auseinandergefallene und auf der Vorhand laufende Pferde, aufgerollte Pferde an durchhängenden Zügeln mit der Nase Richtung Brust.“ Häufig konzentriert sich der Reiter zu sehr auf die Kopf-Hals-Position – ein wichtiges, jedoch nicht alleinig entscheidendes Kriterium. Ein richtiges Vorwärts-Abwärts – sowohl im physiologischen als auch im biomechanischen Sinne – beschreibt die Dressurausbilderin Dr. Britta Schöffmann mit den folgenden Worten: „Bei einer korrekten Dehnungshaltung lässt das Pferd seinen Hals leicht gewölbt nach vorwärts-abwärts fallen und dehnt sich bei aktiv arbeitender Bauchmuskulatur an die Reiterhand heran. Seine Hinterhand bleibt dabei über treibende Schenkelhilfen herangeschlossen. Durch das so wichtige Treiben kommt es zu Kontraktionen der Bauchmuskeln, die wiederum den Rumpf des Pferdes anheben. Von der Seite aus betrachtet, sieht man einen gleichmäßigen Spannungsbogen, ähnlich einer leicht gewölbten Brücke. Gedehnt wird so die gesamte Oberlinie des Pferdes.“ Häufig wird auch über die angestrebte Tiefe der Pferdenase diskutiert – oft wird dabei die Höhe der Buggelenke genannt. Allerdings ist dies vom Pferd und dessen individuellen Exterieur abhängig und lässt sich nicht pauschalisieren, so Britta Schöffmann: „Die Nase darf so tief sein, dass das Gleichgewicht erhalten bleibt. Dies kann bei einem Pferd etwa auf Höhe der Bugspitze sein, beim anderen tiefer.“

Spannung zur Entspannung

Das wichtigste Kriterium bei einem korrekten Vorwärts-Abwärts ist die Dehnungsbereitschaft vonseiten des Pferdes. Ohne diese nimmt das Pferd möglicherweise durch manipulative Zügelhilfen oder Hilfszügel rein optisch die gewünschte Haltung ein, allerdings ohne den biomechanisch korrekten Bewegungsablauf. Ein Pferd, das psychisch angespannt oder physisch verspannt ist, wird sich nicht vertrauensvoll in die Tiefe und an die Reiterhand dehnen. Dies ist in der Evolutionsgeschichte des Fluchttieres Pferd verankert: Mit erhobener Kopf-Hals-Haltung verschafft sich das Pferd einen Überblick über seine Umgebung und behält dabei potenzielle Gefahren im Blick. Ein Pferd, das sich mit fallengelassenem Hals bewegt, ist psychisch und physisch losgelassen und entspannt. Daher dient die Dehnungshaltung in Form von „Zügel-aus-der-Hand-kauenlassen“ als Überprüfung der Losgelassenheit. Weder Verspannung noch völlig fehlende Spannung sind somit von Nutzen: Für ein korrektes Vorwärts-Abwärts wird ein gewisser Spannungsbogen benötigt, da bei fehlender Spannung die Aktivität der Hinterhand verlorengeht und die Vorhand übermäßig belastet wird. Ist dies der Fall, so kann die Dehnungshaltung auf Dauer schädlich für die Gesundheit des Pferdes sein. Wie leicht oder schwer es einem Pferd fällt, sich in korrekter Dehnungshaltung zu bewegen, hängt von vielen Faktoren ab: unter anderem dem Sitz und der Hilfengebung des Reiters sowie dem Exterieur und der bisherigen Ausbildung des Pferdes. So fällt es beispielsweise Pferden mit einem sehr langen Rücken – unter Umständen mit Tendenzen zum Senkrücken – verhältnismäßig schwer. „Eine Dehnung in Richtung vorwärts-abwärts wird über eine halbe Parade eingeleitet“, so die Dressurausbilderin. „Dadurch kann man sichergehen, dass sich das Pferd von hinten nach vorne an die Reiterhand herandehnt. Der Rest geschieht durch eine abwartende Hand, die das Bestreben des Pferdes nach Dehnung lediglich zulässt. Einige Reiter machen den Fehler und ‚fummeln‘ ihr Pferd in die Tiefe. Das ist aber falsch, da sich der Reiter dadurch jegliche Rückmeldung, die ihm das Pferd vielleicht geben möchte, nimmt. Selbst eine nicht gewünschte Aktion wie beispielsweise ein Kopfschlagen ist eine Rückmeldung und lässt Schlüsse auf die bisherige Arbeit und den momentanen Zustand des Pferdes zu. Dehnt sich das Pferd nicht in schöner Selbsthaltung Richtung vorwärts- abwärts, muss der Reiter seine bisherige Arbeit, die der vergangenen Minuten oder vielleicht sogar die der vergangenen Wochen und Monate überdenken.“

…alles zum Thema Vorwärts-Abwärts lesen Sie in der Mein Pferd-Ausgabe 06/2019.